Samstag, 16. März 2013

12.3.2013, Hatschtag 5: Hava Night Camp - Midreshet Ben Gurion (Negev), 27 km

Bin froh, dass sich keiner meiner Freunde Sorgen macht, wenn ich mal ein paar Tage keinen Empfang habe oder mich nicht melde. Ich habe das Bauchgefühl, das ich immer schon gehabt habe, nämlich dass ich es immer irgendwie nach Hause schaffe - egal was kommt.

Schon um 10:00 früh über 30 Grad. Holla.

Kurze Zeit später: 35 Grad
Tomer und Siva sind sich sicher, dass die Hitzewelle bereits angerollt ist.




Mein Pilgerbruder Francesco verliert das lebenswichtige Blatt mit seiner Camino-Landkarte in einer starken Windböe, es flattert in einen tiefen Canyon. Jetzt bin ich es, der vielleicht Francesco's Hintern rettet (ohne Landkarte ist man eindeutig aufgeschmissen im Negev), denn ich habe ja noch meinen INT-Hiking-Führer mit den gleichen Landkarten. Damit revanchiere ich mich für die 1-2 mal, wo Francescos hervorragende Orientierungskenntnisse mir/uns die falsche Abzweigung ins Off erspart hatten. Und für das gestrige Abendessen, als ich Chaot mein Sturmfeuerzeug nicht gefunden hatte und mir Francesco seine Streichhölzer geliehen hatte (immer das gleiche: alles, was ich vermeintlich vergessen habe mitzunehmen, habe ich regelmäßig irgendwo am Mann). Die Lektion daraus für mich ist klar: Hatsch nicht allein durch die Wüste, zumindest nicht auf Mehrtagesstrecken ohne jede Nähe zur Zivilisation. Denn zu zweit hast Du doppelte Landkarten, doppelte Kocher, doppelte Navigationskenntnisse, doppelte Handies mit mehreren SIM-Karten und Netzen sowie Akkuladungen, und das wichtigste: Zu zweit verzweifelst Du nicht so schnell, wenn die Dinge haarig werden. Beispielsweise gestern Nacht, als ich mit Tomer losgezogen bin, um irgendwo in der nächtlichen Negevwüste ein Reserve-Ersatz-Wasserversteck zu finden.





Tomer trägt unglaubliche 27 Kilo auf dem Buckel. So ein Gewicht erreicht man durch Mitschleppen der folgenden Sachen: gedörrte Pflaumen, allerlei Nüsse, Kaffeeset mit Porzellantassen (1 davon liegt jetzt im Wasserloch von Ein Akev - Francesco ist damit kurz gestolpert...), etc. Ich kann den Rucksack von Tomer kaum vom Boden aufheben, ohne Übertreibung. Das Ding ist kein Hatschzubehör, sondern eine Strafe. Niemand von meinen Freunden hier hat jedoch Verständnis für die Ultralight-Philosophie. Gut, der Ultralight-Gedanke fällt ordentlich ins Klo, wenn man zusätzlich zum ganzen Krempel 6 Kilo Wasser mitschleppen muss.  Dann ist es fast auch schon wurscht, was man für ein asketisch-minutiös abgewogenes Basisgewicht im Rucksack hat.

Ich bin einerseits genauso ausgerüstet wie Francesco, der ein echter Pilger-, Wander- und Gearfreak ist. Andererseits hab ich mit ca 11 kg Base Weight und ca 18 kg Einsatzgewicht (inkl. Verbrauchsgüter & Wasser) mit Abstand den leichtesten Rucksack (Francesco: 25 kg)
Und ich bin der einzige, der mit kurzem T-Shirt und Short durch die Wüste hatscht. Ich trau's mir aber zu, weil ich weiß, wieviel Sonne ich vertrage.







Vom eigentlichen Wüstenhatsch gibt's wieder weniger zu schreiben. Die Fotos sollten dafür umso mehr aussagen.

Ich sehne mich nach Abkühlung. Die kommt endlich, nach endlosen Bergaufmärschen in der Brüllhitze - das Ein Akev-Wasserloch! Mitten in der Wüste und dennoch eiskalt. Für mich das absolute Highlight dieses Tages.

Tomer und Sivan machen neben dem Wasserloch ordentlich Picknick, es gibt sogar frischen arabischen Kaffee. Sie bieten uns auch noch was an. Ich revanchiere mich mit Doritos-Chips (die Pringles kommen leider nicht so gut an, die sind unkosher)

Jede israelische Reisegruppe, die wir hier am Wasserloch treffen, hat mindestens einen Bewaffneten mit Surmgewehr dabei. Mitten im nicht umstrittenen, friedlichen, jüdischen Israel (angeblich wegen der Gefahr von Kinderentführungen).
Sogar eine zivil angezogene Militär-Reisegruppe hat Bewaffnete dabei mit M4 Sturmgewehren.







Die Schüler (ca 10-12) einer Schulklasse, die hier am Wasserloch einen Ausflug macht, sind unglaublich gut erzogen und sehr höflich. Sie stellen uns lauter interessierte Fragen. Sprechen ein lupenreines US-Englisch, weil die meisten aus den USA stammen. Einer der kleinen Stöpsel stellt mir die vielleicht sinnreichste und tiefschürfendste Frage, seit ich Pilger bin: "Why did you come here?" - Die aufrichtige, ausführliche Antwort darauf dürfte umfangreicher ausfallen als all meine Tagebucheinträge.

Ähnlich ausführlich habe ich im Jahr 2006 dem Pfarrer Don Blas geantwortet, der mitten auf der Via de la Plata in der Extremadura liebevoll eine Pilgerherberge leitet, und mich unvermittelt gefragt hat: "Was bedeutet der Camino für Dich?"
Die Kurzantwort, die mir in der ersten Verwirrungssekunde zunächst aus dem Mund kam, war: "Alles." Die Langfassung dauerte erheblich länger.

Gegen 17:00, in der Abendsonne, trauen wir beide unseren Augen nicht: Da steht mitten in der Wüste ein luxuriöses Zeit, das einen Scheich glücklich machen würde, darin eimerweise Orangen (damit könnte man Orangenschlachten bestreiten), Kanister voller Wasser, allerhand Leckereien, Campingstühle - und mittendrin ein Pärchen aus Finnland. Offenbar wollte er seine Holde beeindrucken und hat über eine Eventagentur das Luxuszelt aufbauen lassen. Jetzt stehen sie da und werden neugierig beglotzt von uns, einigen Radlern und anderen Reisenden, die vom Wasserloch zurück in die Zivilisation gehen. Skurriles Bild...

Wir sind am Tagesziel angekommen! Am Parkplatz am Eingang zum Naturpark Ein Akev, direkt am Fuss des Berges zum Ort Mereshet Ben Gurion. Dort hat der Staatsgründer Ben Gurion lange gelebt.





Am Ende dieser Tagesstrecke bin ich so richtig (!) im Eimer. Fußschmerz. Der letzte Abschnitt sind die längsten 3 km meines Lebens. Ich gehe / stolpere nur noch langsam dahin.

Zur Motivation krakeelen wir mitten in der Wüste lauthals Lieder, die wir beide bereits kennen oder zumindest leicht mitsingen können: Soldatenlieder wie Lilli Marleen (als Soldat war Francesco öfters mit deutschen Soldaten unterwegs) und Blues Brothers, Tu va fa Americaaaano und ein recht derbes Bundeswehr-Lauflied mit dem schönen Titel "Auf der Straße nach Paris" (zur Melodie von "Captain Jack"), dessen Text ich hier besser nicht wiedergeben sollte, dazu Marco Masini und Ligabue aus Francescos Heimat.

Wir haben's zum Parkplatz geschafft - und sind beide wirklich im Eimer. Wir dürfen die letzten paar Meter bergauf bis zur Ortschaft mit dem von einer religiösen Schule mitfahren. Vorne sitzen die recht streng dreinblickenden, bärtigen Rabbis. Hinten sitzen die ca 5 Jahre alten schläfenlockigen Buben und stellen mir allerhand neugierige Fragen in fließendem Hebräisch. Kann leider nicht in die Kommunikation einsteigen, egal welche Sprache ich ausprobiere. Auch mit Russisch, das bislang stets meine Trumpfkarte war, komme ich nicht weiter. Die Kleinen sind dennoch äußerst herzig und lieb. Wir wirken auf sie wie das personifizierte Abenteuer, so verschwitzt, schwer beladen, unrasiert und abgerissen wie wir beide aus der Wüste kommen.

Ich sehne mich nach 2 Tagen und 1 Nacht in der Wüste nach einem Zwischenstopp in der Zivilisation: Der Ort Medreshet Ben Gurion ist die Rettung.
Die beiden Israelis Tomer & Siva machen einen Bogen um den Ort und hatschen weiter ins nächste Night Camp in der Wüste. Wow.

Wir checken ein in einer Art Jugendherberge (Field School). Unser Mann an der Rezeption lacht über Francescos Versuch, in seinem Zimmer das Licht anzumachen und meint: "This is Israel. You have to push harder." - Vielleicht ein das Land sehr bezeichnender Kommentar. Mit ihm reden wir auch ausgiebig über die derzeitige Sicherheitssituation im Land. Er kennt sich hervorragend aus.


Ein Soldat in Uniform mit Steuerberaterdesignerbrille kommt ohne Umschweife auf uns zu: "Where are you from?" Ich: "Italy and Germany". Er, ebenso nüchtern, aber sehr von Herzen kommend: "Welcome to Israel!".
- Francesco und ich sind uns einig: So eine Menge ausgesucht freundlicher, hilfsbereiter Menschen wie in Israel haben wir in unseren Leben noch nicht gesehen.




Abends feiern Francesco und ich bis 23:00 unser bestandenes gemeinsames Wüstenabenteuer und seinen morgigen Abschied, mit ausgiebigem Gear-Talk (er bleibt jedoch resistent gegen meine Ultralight-Philosophie) und mit Francescos Pasta-Missionierungsversuchen. Er wird mir fehlen, der alte Knabe. Sehr. Und so unterbreche ich meine bislang strikt befolgte Fastenzeit und gönne mir zur Pizza ein paar Biere mit meinem neuen Pilgerbruder.

Ich muss wegen der Hitzewelle gut planen. Der Höhepunkt der Hitzewelle wird am Freitag erwartet, angeblich. Ich will und darf, jetzt wo ich alleine weitergehe, keine Risiken mit Wasserverstecken in Wüstencamps mehr eingehen.

Mich erreichen viele Emails von lieben Freunden, die im Geiste an meiner Seite mitpilgern. Ihr wißt gar nicht, wie gut sich das anfühlt. Natürlich schreibe ich mein Pilgertagebuch hauptsächlich zu meiner eigenen Erinnerung. Aber Eure positiven Rückmeldungen bringen mich dazu, weitaus ausführlicher und vielleicht auch unterhaltsamer zu schreiben als sonst üblich. Danke Euch! Und wenn ich mal 1-2 Tage nichts neues poste, dann bin ich nicht in der Judäischen Wüste verschollen, sondern auf dem Weg durch Gegenden ohne Internetempfang zum nächsten WIFI-Hotspot, um meine Berichte und Fotos abzuschicken.

Kann es tatsächlich sein, dass ich hier in der Hitzewelle bei 35 Grad frittiere und zuhause gibt's Schneechaos? Die WELT online vom 12.3.2013: "Karambolage mit mehr als 100 Fahrzeugen, ein geschlossener Flughafen, Stromausfälle: Eine Schneewalze rollt durch Europa. Meteorologen können noch immer keine Hoffnung auf Frühling machen." - Ui. Da hab ich's ja richtig gut erwischt! :-)

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