Sonntag, 17. März 2013

15.3.2012, Hatschtag 8: Kibbutz Amasa - Meitar (23 km)


"(...) bis zu den Enden der Erde. Dort hat er der Sonne ein Zelt gebaut. Sie tritt aus ihrem Gemach hervor wie ein Bräutigam. Sie frohlockt wie ein Held und läuft ihre Bahn." (Psalm 19 (18))

Die Psalmstelle passt zu diesem sonnigen, hochsommerähnlichen Tag perfekt. Es wird ein Gipfel an Sonne und Hitze werden.

Leider bin ich nur äußerst schwer aus den Federn gekommen. Die Interrailkiddies haben mich gestern lange mit hebräischen Schnulzen um die abendliche Ruhe geklampft und verhindert, dass ich konzentriert meine Hatschplanung für heute angehen kann. Beim Einschlafen hat mir meine gute Freundin Dormidiana (Doxilamin 25 mg) geholfen, ein Mitbringsel aus Spanien. Knockt Dich zuverlässig aus in der Siesta unter einem Olivenbaum, in anderen ungemütlichen Lagen und immer dann, wenn Du Schlaf dringend brauchst. Je älter ich werde, desto schwieriger fällt mir das Ein- und Durchschlafen im Zelt. In Israel fällt mir das allerdings nicht so schwer - außer es klampfen und singen 2 m nebenan die Damen und Herren. Ich vermisse abends durchaus des öfteren meine Privatsphäre. Ist auch der Grund, warum ich überlaufene Caminos wie den Camino Francés nie mehr gehen würde. Wenn man Freunde gewinnen will und gerne gemeinsam kocht, ist es großartig, aber zum kontemplativen Abschalten echt kontraproduktiv.

Jetzt zum munterwerden ist mangels eines Caféhauses eine Coffeintablette indiziert. Meine kleinen "Uppers" & "Downers" trage ich immer griffbereit in meinem Wimmerl. Hat sich bewährt.







Woran erkennt man äußerlich einen echten Die-Hard-Pilger? Ihm ist es vollkommen wurscht wie er ausschaut und hatscht grundsätzlich nur in Funktionsfaser. Er hat über die Jahre bewährte, extrem leichte multi-use Ausrüstung, alles wichtige griffbereit am Vorderkörper (Pilgerführer, Kompass, Kamera, Geld, Pfefferspray etc) und er trinkt immer wieder über den Tag verteilt portionsweise aus einem Trinksystem.

Pustekuchen bei den israelischen Wanderern: Die tragen auf ihrem INT durch das gesamte Israel urschwere low-tech Rucksäcke, haben Baumwollklamotten an, trinken aus Flaschen, die sie am / im Rucksack verstauen müssen und schleppen auch noch Musikinstrumente wie Flöten oder Gitarren (!) durch die Botanik! Das sind echte Die-Hards.

Baumwollstoff hat einen sehr schlechten Ruf bei Outdoor-Freaks, weil sie feucht nicht mehr wärmt und nur schwer trocknet. US-Rettungsteams, die regelmäßig Baumwoll-ausgerüsteten Trekkern aus der Patsche (= Unterkühlung) helfen müssen, nennen das Gewebe "death fabric".

Ich habe mir bei Francesco den Trick abgeschaut, das jeweils einschlägige Blatt mit Landkarte und Tourenbeschreibung des jeweiligen Pilgertages rauszureißen und vorne am Körper in einer wasserdichten Klarsichthülle zu tragen. Praktischer geht's kaum. Schaut halt saudumm aus. Wurscht.

Jemand, der den Shvil Israel (INT) hatscht, heißt übrigens "Shvilist". Mehrere Shvilisten heißen "Shvilistim". Hebräisch kann so einfach sein.

Bleibe heute nacht bei Trail Angel Boaz in Meitar. Konnte online in dem Ort keine Hotels oder Pensionen finden. Er klingt am Telefon extrem nett.

Wenngleich ich mich gefreut habe über die etwas hemdsärmelige Gastfreundschaft im Kibbutz Amasa gestern (sie stellen den Shvilisten einen ratzigen Raum mit unbezogenen Schaumstoffmatratzen zur Verfügung), so hat mich doch das dortige Klima der Angst und des Misstrauens gestört. Angeblich richtet sich ihre Wehrhaftigkeit nicht gegen Palästinenser, sondern gegen klauende Beduinen. Sind das die Kibbutzim, wo deutsche Friedensbewegte so gerne unentgeltlich arbeiten, Vergangenheit bewältigen und Dialog suchen, idealerweise über einer dampfenden Schüssel mit irgendwelchen vegano-biodynamischen "Kerndln"?? Merkwürdiger Ort für eine solche Zielgruppe.

Mir scheint, die wehrhaften Kibbutzniks mit ihrer robusten Einstellung brauchen überhaupt keine alliierte Hilfe von außen. Und schon gar nicht brauchen sie weltverbessernde, missionierende Flagellanten. Israel konnte sich selber immer schon am besten helfen.

Heatwave: wohl nicht dramatsicher als gestern. Momentan 32 Grad. Ab morgen soll's kalt und zT regnerisch werden.






Gehe ab jetzt nicht mehr nach Norden, sondern westwärts, um mich an der südlichlichen Grenze des Westjordanlandes entlang zu arbeiten. In einer Rechtskurve werde ich mich dann auf Jerusalem zubewegen.

Heute geht's durch einen duftenden Pinienwald, tendenziell bergab.

9:00 früh: 32 Grad.

Der INT ist definitiv kein Einsteigerpilgerweg. Man sollte sich vorher bereits sehr gut kennen und seine Grenzen an Marschleistung und Hitzetoleranz ausgelotet haben. Es ist ein Glücksfall, dass ich mit dem INT einen schönen Pilgerweg gefunden habe (der jedoch für Israelis ein reiner säkularer Fernwanderweg ist). Denn der INT bietet dem Pilger eine Infrastruktur (Übernachtung, Wegmarkierung, Wasserstellen), die - zumindest außerhalb des Negev - mit den nicht allzu populären Varianten des Camino de Santiago (zB. Via de la Plata) durchaus vergleichbar ist.

Im INT-Führer wird empfohlen, einige Wochen vor dem Hatsch das Hatschen mit Rucksack zu trainieren ist meines Erachtens  ein Schmarrn. Das Training für den Weg ist die Woche Nr. 1 auf dem Weg. Danach ist man in der Regel schmerzfrei.

Wie durch ein Wunder hab ich mir noch keine Blasen gelaufen! Ebenso hab ich keinerlei Probleme mit meiner Achillessehne, die ich mir vor genau 1 Jahr angerissen habe. Für mich ein echtes Wunder, bei all den Folgekomplikationen, die ich ausgestanden habe, um wieder ins Rennen reinzukommen.

Wanderer, die mir entgegenkommen, kündigen für Nachmittag 40 Grad an. Frage mich, was ich mit der Info anfangen soll. Habe eh keine Alternativen als bis zum heutigen Ziel stumpf weiterzuhatschen. Die Option, mich mit Anzugserleichterung und einem kühlen Drink ins Freibad zu legen, hab ich hier eh nicht.

Das im Führer extrem ungenau beschriebene Fosthaus, wo man Wasser nachfüllen kann, angeblich nach 8 km (1/3 der heutigen Strecke) - habe ich verpaßt!! Und das wegen ausschließlich hebräischer Beschriftungstafeln. Mist! Jetzt muss ich mit meinen (derzeit) 2-3 l für den Rest des heißen Tages auskommen.

Kurz verlaufen - keine Wegmarkierungen - GPS - zurückgehatscht.

Du weißt, Du bist schon zu lange Pilger, wenn...
...Du Dir Deine Kaffeesorte nicht nach Geschmack, sondern nach Wirkung aussuchst. Genau das bräuchte ich jetzt: einen doppelten Espresso!







Der INT läst keine einzige Steigung, keinen Hügel, uns auch nicht den kleinsten Anstieg aus. Es geht rauf und wieder runter in dieser schönen Landschaft, wie in einer Achterbahn. Von oben auf den Hügeln erkennt man bisweilen flachere Wegalternativen, die der Shvil Israel bewußt vermeidet. Was er stattdessen bietet: Immer nur feste rauf & runter!

Ich komme vorbei an mehreren 2000 jahre alten Siedlungsruinen (Hirbet). Die Bauten stammen von Juden, die nach der Zerstörung des Tempels und Jerusalems hier im Negev Zuflucht gefunden haben. Man sieht sogar noch begehbare Gewölbe. Niemand scheint sich um Ausgrabungen zu kümmern. Hey, wir sind im Heiligen Land. Da könnte man sich überall einen Wolf graben, wenn man möchte.

Ich glaube es kaum: Mitten in der Mittagshitze kommt ein junger Mann aus dem Feld auf mich zu, wahrscheinlich ein Beduine, und labert mich voll. Beduinen erkennt man in der Regel daran, dass sie kein Englisch können, daher gestaltet sich auch unsere Kommunikation eher schwierig. Ich verstehe, dass er was zu trinken will - von einem Wanderer?! Ok, ich gebe ihm meinen Reserve-Wasserbeutel mit ca 1/3 l Wasser, den er dankend, aber doch recht ungeniert aus dem Stand wegzieht. Nachdem ich heute an der Wasser-Nachfüllmöglichkeit beim Forsthaus irrtümlich vorbeigehatscht bin und nur noch 1-2 l für den Rest des glutheißen Tages habe, ist mein Geschenk nicht unriskant für mich. Aber wer würde jemandem Wasser verweigern, der Durst hat?

Ich muss manchmal mit einem deutlichen Schmunzeln an das Lied "Fata Morgana" von EAV denken mit dem unerreicht sinnfreien Reim: "Ein alter Beduine saß auf einer Düne, biß in die Zechine und sprach "Inshallah - Oh Effendi, man nennt mich Hadschi Halef Ibrahim..." Etc.

So, jetzt ist es 14:30 und es hat sportlich-ambitionierte 38 Grad. "Schweißfrei" ist was anderes. Beim Tippen fallen Schweißtropfen auf die Blackberry-Tastatur.

Abends bin ich zu Gast im Garten von Boaz und seiner Familie. Boaz ist ein sog. Trail Angel. Das sind Freiwillige (wohl in der Regel INT-Veteranen), die ihre Gärten und Häuser den vorbeihatschenden Shvilisten zum Übernachten zur Verfügung stellen. Ich habe die wohl nettesten Trail Angels auf dem ganzen INT erwischt, mit entzückenden Kindern und einem sehr streichelbedürftigen Hund namens Hummus.
Abends bin ich mit ihnen eingeladen zum Essen bei ihrem Freund Doda nebenan. Ich kann es fast nicht glauben, mit welcher Gastfreundschaft man hier als komplett Fremder empfangen wird, wie man mit offenen Armen gleichsam in die Familie integriert wird. Es beschämt mich sehr, dass ich im Gegenzug nichts anzubieten habe. Es ist manchmal eine Kunst, sich so reich beschenken zu lassen. Und man sollte es auch annehmen. Vielleicht kann man sich eines Tages dadurch "revanchieren", dass man ebenfalls ein gastfreundliches Haus hat, Fremde aufnimmt, immer für Freunde und Gäste eine offene Tür hat?








Ich habe Glück: Weil Sabbat ist und alle Geschäfte geschlossen sind, fährt mich Tali, Boaz' ebenfalls sehr nette Frau, zur Tankstelle zum Vorräte kaufen. Normalerweise ist Sabbat für einen Pilger der Horror-Tag: Man sollte niemanden anrufen, man kommt fast nirgends unter, man kriegt nix zu kaufen. Erinnert mich an das Gedicht "Herbsttag" von Rilke (mit kleinen Anpassungen):

Herr: es ist Sabbat. Der Weg war sehr lang. (...)
Wer jetzt kein Haus hat, findet keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Blogs schreiben
und wird in dem Camino hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.


Ich würde gerne öfter in Pensionen oder Hotels absteigen, aber davon gibt es scheinbar kaum mehr welche bis Jerusalem. Also muss ich die Gastfreundschaft der Trail Angels noch ein paarmal in Anspruch nehmen.

Ich lese, dass heute, am Höhepunkt der Hitzewelle, der Tel Aviv Marathon wegen der ungewöhnlichen Hitze nur als Halbmarathon ausgetragen wurde, mit 35.000 Teilnehmern. Ergebnis: 1 Toter, 34 im Krankenhaus wegen Dehydrierung und Hitzschlag, 5 davon unter Beatmung - obwohl das Rennen schon um 9:30 früh zuende war. Die schlimmste Hitze mit 36 Grad entstand erst nach dem Rennen. Der Tote ist ein Major der IDF aus Be'er Sheva im Negev, angeblich in guter Form und ein guter Läufer - vor einem Monat Papa geworden. Furchtbar.

Muss aufpassen, auch das Hatschen mit Rucksack bergauf, bergab in der Bruthitze ist nicht ganz harmlos. Angst habe ich dennoch keine, weil ich schon so oft im hochsommerlichen Spanien mit Rucksack unterwegs war - und die Hitze und die Sonne jedesmal in vollen Zügen genossen habe statt darunter zu leiden. Da spürt man noch intensiver, dass man am Leben ist.

Israelische Mithatscher (Co-Shvilisten) haben mir gesagt, dass die Strecke bis Jerusalem in der verbleibenden Woche gut zu schaffen sein sollte. Na dann mal auf in die Heilige Stadt mit einem donnernden "Deus lo vult!" :-)

159 km sind geschafft!

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