Sonntag, 17. März 2013

16.3.2013, Hatschtag 9: Meitar - Kibbutz Dvir (ca 23 km)

Ich breche etwas später auf, gegen 7:30, weil die heutige Strecke nicht so lang ist und es stark abgekühlt hat. Kein Bedürfnis, im Morgengrauen loszugehen, um der Mittagshitze zuvor zu kommen.

Der INT führt lange am Grenzzaun zum palästinensischen Westjordanland vorbei. Wirkt ein bissl wie die Berliner Mauer. Der Zaun hat einige Löcher, durch die immer wieder Menschen (angeblich Arbeitspendler, keine Kriminellen oder Terroristen) und Güter geschmuggelt werden, angeblich hauptsächlich von Beduinen. Weil davon aber bislang keine echte Gefahr ausgeht, läßt man die Löcher wie sie sind. Das Verfahren erinnert ein bissl an den Süden der USA, der mittlerweile wirtschaftlich sehr stark von den illegalen Einwanderern abhängig ist.

Es ist schwer zu glauben, aber ich bin immer noch in der Negevwüste. Die Landschaft ist nur jetzt im Frühling so schön grün, ansonsten gelb oder braun verbrannt.

Während ich dies tippe, auf einem Hügel mit Blick auf den Grenzzaun, laufen doch tatsächlich ca 200 m vor mir 2-3 Menschen illegal durch ein Loch im Zaun und werden pünktlich auf israelischer Seite von einem Schmuggler im Auto abgeholt. Ohne Schmäh!




FOTO:  Die Grenzanlagen zur West Bank - auf der Strasse entfernt sich gerade - in flagranti - das Schleuserauto mit den illegalen Grenzgängern! Den Draht / Stacheldrahtzaun sieht man nur schlecht.


Kurz nachdem ich aus Fadesse blödelnd mit meinem Fotostativ in Pirschhaltung (wie mit einem Gewehr) durch den Wald gelatscht bin, um mir die Langeweile des Gehens zu vertreiben, spricht mich aus dem Nichts ein mit einem Mini-Tavor Sturmgewehr bewaffneter und bebrillter Steuerberater in der Uniform eines IDF-Soldaten an, in voller Kampfausrüstung, der dort mit einem Kameraden am Waldrand gegenüber der Grenze zur West Bank in einem schwer einsehbaren Beobachtungsposten lag. Als ich ihm erkläre, was ich hier treibe, ist er sehr nett und läßt sich auf einen kleinen Plausch ein.

Unsicher fühlt man sich hier in Grenznähe eigentlich nicht. Eher überwacht. Die Sicherung der Kibbutzim dient ja, wie ich erfahren habe, mehr der Sicherung des Eigentums an zB. Landmaschinen als der Abwehr palästinensischer Gewalttäter.

Kurze Zeit später nähere ich mich dem mit Stacheldrahtzaun abgesicherten Kibbutz Lahav, das in Sichtweite zur Grenzlinie liegt. Von seinem Pickup aus erspäht mich Josef, ein liebenswürdiger Beduine, der zusammen mit seinen beiden wirklich herzigen, schwarzäugigen Buben in einem Zelt wohnt, das wie ein Ausguck die Felder im Grenzland überblickt. Er nimmt mich in seinem Pickup zu seinem Zeit mit und bietet mir verschreibungspflichtig starken arabischen Kaffee an, zusammen mit einem an seinem Ofen frisch ausgebackenen, herrlich dünnen Beduinenbrot - ein echter Traum! Obwohl er selbst kaum etwas zum Leben hat, wie es scheint. Er arbeitet hier während der Woche auf den Feldern - so verstehe ich ihn - und wohnt ansonsten in Be'er Sheva, wo sich auch viele Beduinen niedergelassen haben. Ein Kaffee für Gäste, das ist das traditionelle Symbol beduinischer Gastfreundschaft, die ihnen hoch und heilig ist. Ich bin wieder einmal sehr gerührt und versuche mich mit dem Geschenk von Doritos-Chips und Cachew-Nüssen an seine beiden Buben zu revanchieren. Was für ein lieber, gastfreundlicher Mann. Was für ein sympathischer Menschenschlag. Wir sprechen kaum 3-4 Worte in der gleichen Sprache und können uns dennoch so halbwegs verständlich machen.
Josef hat den höchsten denkbaren Standard für Gastfreunschaft gegenüber einem wildfremden Menschen noch einmal angehoben. Das sind Eindrücke, die bleiben. Wahrscheinlich mein Leben lang.

Gleich hinter dem Zelt von Josef liegt das Joe Alon Center mit dem Museum über das kulturelle Erbe der Beduinen. Es gibt dort viel zu lernen und bestaunen. Immerhin ist jeder 4. Bewohner der Negevwüste Beduine. Ein waschechter Beduine mit dem "Scheich"-Kopftuch Kafiya bietet mir bei einem zur Demonstration aufgestellten Gästezelt aus Ziegenhaar (das wegen des Fettgehalts der Haare sogar wasserdicht ist) einen weiteren Kaffee an und verabreicht mir einen weiteren Koffeinschock.
Ich habe schon wieder das Lied "Fata Morgana von EAV im Kopf und muss öfter mal grinsen, singe sogar verstohlen mit, wenn keiner herschaut.
Die Gastfreundschaft der Beduinen geht so weit, dass selbst Angehörige eines verfeindeten Stammes bei ihnen Unterkunft bekommen, bis sie wieder gehen. Dieses Recht besteht für dreieindrittel Tage. Anhand des Aufwandes, der bei der Gästebewirtung betrieben wird, bemißt sich Ehre und Ansehen des Gastgebers. Es kann passieren, dass der Gastgeber in seiner Not, weil er keine Ziege zur Hand hat, ein Kamel schlachten muss. Dem Gast obliegt es im Gegenzug, unentwegt den Gastgeber und seine Großzügigkeit zu preisen. Gastfreundschaft ist jedoch kein altruistischer Selbstzweck, sondern eine wechselseitige Lebensversicherung bei den Nomaden in der Wüste.




FOTO: Ich vor den Grenzanlagen. Zwischen den Zäunen fahren gelegentlich Patrouillen.


 Wenn man in Deutschland von Israel hört, denkt man in erster Linie an jüdische Israelis und an moslemische Palästinenser, also Araber. Beduinen (ebenfalls Araber) sind wiederum ein eigenes Volk, das gleichberechtigt im Heiligen Land siedelt. Die israelische Armee verfügt über spezielle Einheiten aus (freiwillig dienenden) Beduinen, insbesondere als Spurensucher. Und ebenso vergißt man gemeinhin die christlichen Araber und die Drusen, die sogar regulär in den IDF dienen - und den enthnisch-kulturellen Fleckerlteppich des Heiligen Landes abrunden.

Als ich gestern mit meinem lieben Gastgeber Baoz über Geschichtliches geplaudert habe, ist mir ein lustiger Versprecher passiert: Ich erwähnte die Schlacht von Hattin, wo "The cruisaders fought against Saladin - and we lost". --- "WE?!" Auweia. :-)


Am Ende dieses unmotivierten Hatschtages noch eine endlose Suche nach dem Eingang zu Kibbutz Dvir, das die Ausmaße eines Flughafens hat. Das Eingangstor mit Wärterhäuschen ist genau auf der dem INT abgewandten Seite des Stacheldraht-Sicherheitszaunes. Kostet ca 2 km extra. Und dafür darf ich dann auf dem Hochsicherheitsrasen des Kibbutz mein Zelt aufschlagen, bei der Affenkälte, die langsam aufzieht. Nein - Heut hab ich keinen Bock mehr auf eine weitere Nacht im Zelt.

Hatte heute ein deutliches Motivationstief: Zu spät losmarschiert, zu kalter Wind (15-20 Grad, bei solchen Temperaturen frier ich mittlerweile wie ein Schneider), zu wenig gegessen, zu lange Pausen, zu wenig geschlafen (um 5:00 früh im Schlafsack unter freiem Himmel von Regentropfen geweckt worden), demotiviert, weil in den nächsten Tagesetappen wieder nur Zelt- und Kibbutzübernachtungen anstehen und kaum Einkaufsmöglichkeiten für Proviant bestehen (das heißt mehr rumschleppen) etc. Und mein Rucksack mit 4 l Wasser und mit reichlich vorsorglich eingekauften Lebensmitteln lag heute den ganzen Tag wie reines Blei auf meinen Schultern. Man kriegt merkwürdige Muskelschmerzen an den Außenseiten der Hüftgelenke von der Schlepperei. Ich hab mir wohl auch meine erste Blase gelaufen heut. Wie man unschwer erkennen kann: Ich war schonmal besser drauf.

Sitz grad an der Bushaltestelle nahe der Beduinenstadt Rahad & warte auf einen Bus, ein Sammeltaxi (Sherut) oder sonstwas, mit dem ich nach Be'er Sheva zurück fahren könnte. Ich komme mir vor als würde ich jede Minute mit dem Hintern an der Betonbank vom Bushäusl festfrieren in dem kalten Wüstenwind.





FOTO: Der INT, kurz vor Dvir. Ja, die Stimmung war im Eimer.



Endlich hält ein Taxi. Es ist schon fast voll, ich darf mich mit reinrutschen. Kostet dann nicht ganz so viel, wir teilen uns quasi die Kosten bis Be'er Sheva.

Bin in einer Jugendherberge / Motel in Be'er Sheva abgestiegen. Es kommt selten vor, aber ich war echt zu geizig, um ins noble Leonardo-Hotel zu gehen, das um die 200€ pro Nacht kostet (die einzige Alternative im Ort). Ein pfennigfuchsender Sparefroh war ich echt nie, aber das war mir doch zu mondän, dafür dass ich im Wesentlichen ein bezogenes Bett und eine heiße Dusche suche.

Sitze jetzt gerade in einem Wok-Laden und lasse mir Spicy Chicken anbrutzeln. Die Flammen im Wok schießen bis fast zur Ladendecke. - Grande spettaculo! Ich möchte meinen Kurzaufenthalt in der Großstadt Be'er Sheva dazu nutzen, möglichst viel von dem zu essen, was ich die nächsten Tage am wenigsten kriegen werde. Hunger! Her mit dem Chicken!

Am liebsten würde ich einfach einen Tag lang gar nix machen, einfach meine mitgebrachten Zeitschriften bzw. mein Buch lesen (den Krempel schlepp ich seit 10 Tagen ungelesen mit mir rum!!) und in Ruhe den Rest meiner Jerusalemtour planen. Aber dann würde mir ein Hatschtag fehlen, was mein rechtzeitiges Ankommen gefährden könnte. Irgendwie komm ich hier zu kaum einer Stunde Muße. Die Tage sind so kurz. Das Tageslicht ist um 18:00 schon wieder weg, wenn man um 5:00 früh raus muss, sollte man spätestens um 22:00 in den Federn sein. Wenn dazwischen noch ein Zelt aufzubauen und Abendessen zu kochen ist, bleibt echt nimmer viel über.

Beim abendlichen Studium der verbleibenden INT-Strecke fällt mir auf, dass irgendwas mit den Kilometerangaben nicht stimmen kann. Der INT macht - in Anpassung an die West Bank, die er nicht berührt - eine Kurve, die ganz nahe an Jerusalem heranführt, und geht dann über in den Jerusalem Trail, der zusätzlich nochmal 40 km beschert. Das kann nicht stimmen, das ist viel zu weit zur Stadt. Im Reiseführer ist auch keine Übersichtskarte des Jerusalem Trail abgedruckt. Hier hilft wieder mal ein Blick ins Internet über meinen Blackberry weiter: Der Jerusalem Trail ist ein Rundweg mit einer ausladenden Ehrenrunde um Jerusalem herum! Ok, dann schaut mein Zeitplan gleich wieder viel entspannter aus. Die Ehrenrunde um das Pilgerziel herum werd ich mir mangels beim Zieleinlauf applaudierender Massen schenken und stattdessen einfach diejenigen Punkte in der Stadt anschauen, die mich interessieren. Viel Bibel. Viel Geschichte. Viel Ruhe.

Und morgen gibt's viel zu planen, zu sehen und zu organisieren in der Wüstenstadt Be'er Sheva.

Heute sind 182 km geschafft!




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen