Montag, 18. März 2013

18.3.2013, Hatschtag 10: Dvir Junction - Tel Keshet / Philip Farm (ca 23 km)

Aufstehen war heut um 5:30, um meinen ganzen Krempel fachgerecht zu packen. Habe das Gefühl, dass ein gewissenhaft und smart gepackter Rucksack erheblich weniger gefühltes Gewicht auf dem Buckel verursacht als ein schlampig gepackter Hinkelstein. 5 l Wasser sind für die heutige Etappe empfohlen. Nicht wenig. Ich nehme 4 l Wasser & 1 l Cola mit. Soviel Luxus muss sein. Der Taxifahrer Jakob, der mich vorgestern abend schon in Dvir mitgenommen hatte, kommt heute früh um 6:30 vorbei, um mich nach Dvir Junction zurück zu fahren. Er kommt pünktlich wie ein deutscher "Jeck". :-)

Die Strecke heute führt durch Felder, an ausgetrockneten Wadis entlang und durch die Pura und Shikma / Tel Keshet Naturparks. Die sollen so schön sein, dass es sich sogar lohnt, den vorgesehenen erheblichen Umweg zu gehen, der im Pilgerführer vorgesehen ist. Der führt nämlich nicht halbwegs direkt zum heutigen Ziel, dem Hügel Tel Keshet, sondern führt eine Ehrenrunde um den ganzen Naturpark herum. Und um zur Übernachtungsmöglichkeit auf dem Campingplatz Philip Farm zu gelangen, muss man nochmals 2 km in die ursprüngliche Richtung (!) zurücklegen.




Unterwegs muss ich deutlich von der markierten Route abweichen, weil ich in der markierten Unterführung wegen Überflutung und Schlamm nicht unter der Autobahn durchkomme. Das Navi ist hierbei Gold wert.

11:00: Jetzt sitze ich grad direkt gegenüber einer von den Türken im Jahr 1915 gebauten und in den 80er Jahren eingestürzten Eisenbahnbrücke und mach ein bissl Pilger-Natopause.

Leider ist viel los im Park, alles voller kreischender Kinderklassen und brüllender Lehrer. Weiß nicht, was schlimmer ist.





Während ich hier im Schneidersitz auf dem Boden sitze und Kinderschokolade esse - die auch in Israel so heißt - fragen mich ca 5 von 20 vorbeigehenden Wanderern, ob's mir gut geht und ob ich auch genug Wasser dabei habe. Entweder ich schaue wirklich so alarmierend hilflos und erbarmungswürdig aus - oder die Israelis sind einfach einzigartig hilfsbereit. Ich hoffe letzteres. :-) Was für liebe Menschen.

Bei frischen 14 Grad losgehatscht heut, dafür kommt jetzt langsam die Sonne raus und das Thermometer - und die Stimmung - steigen, über 20 Grad. Faszinierend, wie unterschiedlich sich die gleiche Temperatur je nach Tagesform anfühlt. 14 Grad in Bewegung am Morgen, frisch gefrühstückt, sind viel komfortabler auszuhalten als 15 Grad am Ende eines anstrengenden, heißen Hatschtages, mit knurrendem Magen, zB. wartend auf einen Bus oder beim Essen machen oder Zelt aufbauen. Sogar 20 Grad können sich je nach Zustand äußerst unangenehm anfühlen.




Ich kann es kaum glauben, aber mein kleines Thermometer am Rucksackriemen zeigt gerade 20 Grad. Bei dem kühlen Lüftchen und den immer wieder vorbeiziehenden Wolken friert es einen dabei fast.

Meine Kilometerperformance hier auf Jesus Trail und INT kann sich natürlich nicht messen mit den auf meinen bisherigen spanischen Jakobswegen üblichen Tagesdistanzen. Dafür sorgt allein schon, dass es hier einfach zu viel zu besichtigen gibt, dass man öfter auf Verkehrsmittel warten muss, dass das Terrain und das Klima oft äußerst fordernd sind und schlußendlich sind die Tagesetappen im INT-Führer eben kürzer bemessen - je nachdem, wo es wieder Wasser gibt. Ganz ehrlich: 40 km in diesen Bedingungen, das bräuchte ich hier nicht. Mir reichen die 20-27 km vollends, um abends wie ein Stein in den Schlafsack zu fallen.  - Weiter geht's. Ultreia!





Ich kann es kaum glauben, aber auf dem Hügel Tel Nagila, ("Hügel" heißt "Tel") auf dem ich gerade sitze und die Aussicht auf die Landschaft genieße, haben schon 4500 vor Christus Menschen gelebt, wie Ausgrabungen ergaben. Und während des jüdischen Aufstandes gegen die Römer unter Simon Bar-Kochba in den Jahren 132-135 n.Chr. zogen sich hier die Kämpfer der Aufständischen zurück. Der einsame Baum mir gegenüber ist eine 400 Jahre alte Akazie. Geschichte atmet hier, rund um mich herum. Hey, ist ja auch das Heilige Land!

Der Aufstand wurde - wie es Rom zu tun pflegte - mit grenzenloser Grausamkeit niedergeschlagen: Etwa 580.000 Juden verloren ihr Leben, 50 Städte und 985 Dörfer wurden zerstört. Für die Dauer von 2000 Jahren wurde das verbliebene Volk der Juden in die weltweite Diaspora zerstreut. Jerusalem wurde als römische Stadt neu aufgebaut, über dem zerstörten Tempel ein Jupiterheiligtum errichtet.




Ich hatte soeben auf dem Plateau des geschichtsträchtigen Tel Nagila, wo ich mir ein asiatisches Nudelsupperl gekocht hatte, meine "15 minutes of fame": gerade als ich meinen Krempel wieder im Rucksack verstauen wollte, kam eine kreischende israelische Jugendgruppe in der Preislage von ca 10-12 Jahren angelaufen, für die ich die Sensation des Tages darstellte, noch cooler als iPhone, Disco, Facebook und Game Boy zusammen: Ein echter Shvilist! Aus Deutschland! Sofort war ich umringt von Teenies, die mir in durchaus verständlichem Englisch Löcher in den Bauch fragten. Während ich noch damit beschäftigt war, (unnötigerweise) ein wachsames Auge auf mein verstreutes Gear zu werfen, kamen ein paar Teenies an und griffen mir ungläubig an die deutschen Fußballerwadln - die in Wirklichkeit noch nie einen einzigen absichtlichen Ballkontakt erlebt haben. Die Worte "Schweinsteiger" und "Podolski" fielen, ich steuerte natürlich das ersehnte Stichwort "Bayern München" bei, und die Party war perfekt. Hab ein paar herzige Bilder geschossen, wo ich grad umringt war von allerhand neugierigen Kids, die sicher allesamt eines Tages eifrige Shvilisten werden. Ich glaube, seit der ausgehenden Bronzezeit war auf dem Tel Nagila keine solche Gaudi mehr.

Spektakulär ist die Landschaft nicht, aber tatsächlich atemberaubend schön. Sanft gewellte Hügel soweit das Auge reicht, viel Grün, dazwischen kleine Eukalyptuswäldchen, wo die Blätter im Nachmittagswind in der Sonne rauschen und rascheln. Herrlich. Es ist ein Vergnügen hier zu hatschen.




Der Tel Keshet, das Ziel der heutigen Etappe, war ebenfalls seit 3500 Jahren bis in die byzantinische Zeit bewohnt. Zu besichtigen gibt es leider nichts mehr. Am Abhang hat ein schafehütender Beduine sein Zelt aufgeschlagen. Seine Hüterhunde tun ihre Pflicht und warnen mich durch Bellen vor dem Näherkommen.

Eine gewisse kalte Dusche stellt sich ein, als es ans Suchen des Nachtlagers geht. Mein schlaues Garmin-Navi spielt wieder mal alle Stückl und hat auch die Suche nach Unterkünften in der Umgebung drauf. Die nächsten richtigen Unterkünfte, die halbwegs in Marschrichtung (Norden bzw. Osten) liegen, sind allerdings ca 20 km entfernt. Dabei ist die nächste größere Stadt, Qiryat Gat, gerade mal 9 km im Norden. Ich mach mich also auf die Suche nach dem Campingplatz "Philip Farm", der für INT-Hatscheranten die einzige Möglichkeit der Übernachtung in der ganzen Gegend ist. Dabei muss ich im letzten Sonnenlicht 2 km nach Süden zurückhatschen, auf einem Wegerl entlang der Autobahn. Die heutige Etappe ist ja nicht zum "Meilen machen" gedacht, sondern zum Schauen. Wieder einmal schlage ich an der völlig falschen Stelle des Farm-Komplexes auf, hatsche umständlichst zwischen Tiergehegen und Farmhäusern herum, spreche beruhigend auf wachsame, aber gottlob gutmütige freilaufende Wachhunde ein, frage mich bei halbwegs Englisch sprechenden Farmern und bei einer absolut kein Englisch sprechenden, sehr netten Beduinendame durch, bis ich endlich das richtige Gelände identifiziert habe. Die Beschreibung im INT-Führer kriegt dafür echt keinen von 5 möglichen Punkten.






Es stellt sich raus, dass "Philip Farm" schlicht ein Open Air-Strasencafé für sie Reisenden auf der Autobahn direkt daneben ist, und auf dem Rasen daneben darf ich mein Zelt aufschlagen.

Immerhin darf man als Shvilist ein überraschend zivilisiertes Klo benutzen und sich vom Wasserhahn bedienen. Und kosten tut's gar nix. Weiterer Vorteil: Weil es jetzt gerade wirklich a...kalt wird, verkrieche ich mich bereits jetzt, um 19:00, im Daunenschlafsack. Das heißt, morgen bin ich wohl zum 1. Mal so richtig ausgeschlafen.

Die Jungs, die das Café betreuen, sind jetzt wieder weggefahren. Es wird dunkel und einsam.

So echte Camping-Romantik mag nicht aufkommen: Ich liege mutterseelenallein in meinem Zelt auf einem verlassenen Rastplatz im Gras, 50 m neben mir die Autonbahn, weit und breit nichts, was einem so etwas wie Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Und das Thermometer fällt Richtung einstellig. Jetzt kommt zum 1. Mal die neu angeschaffte Ultralight-Daunenjacke von Yeti zum Einsatz.  Im Schlafsack. Und wieder mal die etwas tuntigen Lauftights, die ich mir in Arad gekauft habe (der INT heisst ja schließlich "shvil", also bin ich passend - nämlich "warm" - angezogen) ;-)




Angst habe ich gleichwohl nicht. Warum weiß ich selber nicht. Ich habe mir in den letzten beiden Wochen einfach abgewöhnt, hinter allem etwas gefährliches oder böses zu vermuten. Ich wurde in Israel sehr oft von den Menschen positiv überrascht, wenn ich zunächst argwöhnisch war.

Hierzu ein passender Psalm, der mich sehr berührt, über den "Hüter Israels":

Der Herr ist dein Hüter, der Herr gibt dir Schatten: er steht dir zur Seite. Bei Tag wird dir die Sonne nicht schaden noch der Mond in der Nacht. Der Herr behüte dich vor allem Bösen, er behüte dein Leben. Der Herr behüte dich, wenn du fortgehst und wiederkommst, von nun an bis in Ewigkeit. (Psalm 121 (120))

Gute Nacht allen daheim!

205 km sind geschafft!

1 Kommentar:

  1. > Ich glaube, seit der ausgehenden Bronzezeit war auf dem
    > Tel Nagila keine solche Gaudi mehr.

    Wo nimmst Du bloß diese Formulierungen her?? :-))

    Wieder mal eine tolle Mischung aus Geschichte, Aktuellem, Gaudi und Besinnlichem. Genial! -- James

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